Das steckt hinter Putins Wirtschaftswunder

Das steckt hinter Putins Wirtschaftswunder

Boom trotz Sanktionen

Von wegen Crash! Russland floriert. Löhne und Gehälter wachsen kräftig, das kurbelt den Konsum an und hat einen Ansturm auf Immobilien ausgelöst. Ist es Putin wirklich gelungen, seine Wirtschaft unverwundbar zu machen?

Russischer Präsident Wladimir Putin bei einem Besuch in der Provinz Tschuwaschien: Läuft (noch?) bei ihm

Die Liste der Schmähungen der russischen Wirtschaft ist lang. Angefangen bei der legendären Bemerkung von Google-Gründer Sergej Brin, sein Geburtsland sei nichts anderes als ein Entwicklungsland („Nigeria mit Schnee“) über den Starhistoriker Yuval Noah Harari („Tankstelle mit Atomwaffen“) bis hin zum deutschen Ex-Diplomaten Wolfgang Ischinger („ökonomischer Zwerg“).

Rund zwei Jahre nach Verhängung der ersten Sanktionen wegen des Überfalls auf die Ukraine aber hat die russische Wirtschaft sich wieder einmal als erstaunlich robust erwiesen. Um 3,6 Prozent ist das Bruttoinlandsprodukt 2023 laut einer ersten Schätzung gewachsen, und damit viel schneller als die Wirtschaftskraft in allen großen EU-Staaten.

„Wir sehen keine Anzeichen für ökonomische Schwierigkeiten in Russland, eher das Gegenteil.“

Forscher Benoit Bellone von QuantCube Technology

Lange wurden die Wirtschaftszahlen aus Moskau mit Ungläubigkeit aufgenommen: Moskau frisiere sie massiv, argumentierte etwa der Yale-Professor Jeffrey Sonnenfeld. Doch solche Äußerungen sind selten geworden. Der erwartete schnelle ökonomische Zusammenbruch in Russland ist ausgeblieben.

Die Statistiken stimmen wohl

Unabhängige Experten bestätigen die amtlichen russischen Statistiken weitgehend. QuantCube Technology zum Beispiel, ein Unternehmen, das sich auf alternative Wege der Erfassung wirtschaftlicher Aktivität spezialisiert hat. Dafür werten die Experten etwa Aufnahmen von Satelliten aus. „Wir sehen keine Hinweise auf Manipulationen“, sagt Benoit Bellone von QuantCube. Es gebe „keine Anzeichen für ökonomische Schwierigkeiten in Russland, unsere Daten zeigen eher das Gegenteil.“

So sieht es auch Vasily Astrov vom Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Der Boom in Russland sei real. Das WIIW führt seit dem vergangenen Jahr im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums in Berlin ein Monitoring der russischen Wirtschaftsentwicklung durch, gemeinsam mit zwei weiteren Forschungsinstituten in Deutschland und einem in Österreich. Astrovs Kollegen haben die wichtigsten russischen Wirtschaftsstatistiken auf Auffälligkeiten abgeklopft und kamen lediglich zu dem Schluss, dass die tatsächliche Arbeitslosigkeit wohl ein wenig höher liegen dürfte als die offiziell vermeldeten 2,9 Prozent.

Wenn der Boom aber kein Blendwerk der russischen Propaganda ist, was genau hat ihn dann ausgelöst? Hat Russlands Wirtschaft sich tatsächlich als mehr oder weniger unverwundbar erwiesen, wie Präsident Wladimir Putin gern suggeriert? Oder ist das Wachstum in Wahrheit vor allem der massiven Ausweitung der Rüstungsproduktion geschuldet, in die der Kreml hohe Milliardenbeträge pumpt?

Anatomie eines Rüstungsbooms

Das Forschungsinstitut der finnischen Zentralbank (Bofit) hat sich an einer Antwort versucht. Dafür hat die Ökonomin Heli Simola das Wachstum getrennt nach Industriezweigen untersucht. Die Ergebnisse sind bemerkenswert. Salopp formuliert kann man sagen: Es gibt in Russland nicht die eine Wirtschaftsentwicklung, sondern eigentlich zwei.

Auf der einen Seite stehen die Boomsektoren. Dazu gehört die Metallverarbeitung, die Fertigung von Elektronik und optischem Gerät, Computern, Batterien oder der Fahrzeugbau ganz allgemein. All diese Branchen weisen hohe Wachstumsraten auf. Laut Simola liegt das daran, dass diese Industrien zumindest teilweise auch für das russische Militär produzieren.

Die Entwicklung in den Sektoren, die kaum mit der russischen Kriegsmaschinerie in Verbindung stehen, fällt hingegen deutlich schwächer aus. Handel und Dienstleistungen hatten Mitte 2023 das Vorkrisenniveau noch nicht wieder erreicht. Auch im Bergbau und der Förderung von Rohstoffen wie Öl und Gas gibt es keine Anzeichen für einen Boom. Das Bauwesen wiederum profitiert stark von Aufträgen des Verteidigungsministeriums für neue Fabriken und Befestigungsanlagen.

Insgesamt sind die kriegswichtigen Industrien seit Beginn der Invasion um 35 Prozent gewachsen. Auf der anderen Seite aber leiden viele Bereiche der Zivilwirtschaft. Die Produktion von Haushaltsgeräten ist deutlich zurückgegangen. Auch der Autobau hat sich von Sanktionen und dem Rückzug zahlreicher Hersteller nicht erholt. Die Zahl der in Russland neu zugelassenen Kraftfahrzeuge ist zwar wieder auf über eine Million gestiegen. Doch die meisten der im Land nun verkauften chinesischen Modelle werden importiert und nicht in Russland selbst gefertigt. Dabei galt der – mithilfe westlicher Konzerne – betriebene Aufbau eigener Autofabriken in Russland lange als Erfolgsgeschichte. Mit mehr als 1,5 Millionen Fahrzeugen lag Russland bis zum Kriegsausbruch noch vor Frankreich auf Rang elf der wichtigsten Autobaunationen.

Das ist das deutlichste Zeichen für die Umstellung von Zivil- auf Kriegswirtschaft. Rund 21 Prozent der gesamten Ausgaben der russischen Zentralgewalt fließen offenbar in den Verteidigungssektor. Ganz genau lässt sich das allerdings nicht sagen, weil Russland diese Angaben inzwischen nicht mehr beziehungsweise nur zum Teil veröffentlicht.

Laut Bofit-Ökonomin Simola lassen sich rund 60 Prozent des kräftigen Industriewachstums der ersten neun Monate 2023 auf die Rüstungsausgaben zurückführen, und 40 Prozent des Wachstums der gesamten Wirtschaft.

Doch es sind nicht nur die Verteidigungsausgaben, die Russlands Wirtschaftswachstum antreiben. Auch die Löhne sind im Landesdurchschnitt kräftig gestiegen. Das Plus lag 2023 bei 7,6 Prozent. Soldzahlungen allein können das nicht erklären. „Staatliche Sonderzahlungen betreffen vielleicht eine halbe Million Soldaten. Russlands Erwerbsbevölkerung aber besteht aus 74 Millionen Menschen”, sagt Osteuropa-Experte Vasily Astrov.

„Das könnte der russischen Wirtschaft einen gewissen Entwicklungsschub geben.“

Ökonom Astrov

Dass Millionen Russen sich in den vergangenen zwei Jahren über kräftige Gehaltserhöhungen vom Chef freuen konnten, hat dennoch mit dem Krieg zu tun, allerdings indirekt. Die Mobilisierung hat den Fachkräftemangel im Land verstärkt. Dazu kommt die Flucht von rund einer Million gut qualifizierter Arbeitskräfte ins Ausland. Der Kreml hat die Produktion der Rüstungsbetriebe im zweiten Kriegsjahr deutlich hochgefahren, die Waffenbauer brauchen dafür mehr Personal. Arbeitgeber, auch in nicht kriegsrelevanten Sektoren, müssen deshalb die Löhne erhöhen – sonst wandern die Beschäftigten ab. Im Januar 2024 meldeten 47 Prozent aller Industriebetriebe in Russland akute Personalengpässe. Das war der höchste Wert seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1996.

„Wenn Arbeit teurer wird, lohnen sich Investitionen in Maschinen und Technologien“, sagt Experte Astrov. „Das könnte der russischen Wirtschaft einen gewissen Entwicklungsschub geben.“ Für ein Land, in dem die Durchschnittseinkommen in vielen Regionen noch immer bei umgerechnet 300 Euro oder weniger liegen, ist das eigentlich eine positive Entwicklung. Der Auslöser allerdings sei mit dem Überfall auf die Ukraine „eher ungesund“, so Astrov.

Bremst der Mangel an Menschen Russland aus?

Russland leidet schon seit vielen Jahren unter einer demografischen Krise. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gingen die Geburtenraten noch stärker zurück als in Westeuropa. Russlands Bevölkerung würde deshalb auch ohne Flucht und Kriegstote Jahr für Jahr um Hunderttausende Menschen schrumpfen. Nach Regierungsschätzungen werden dem Land 2030 mindestens zwei Millionen Arbeitskräfte fehlen. Bis 2045 dürfte die Hauptstadt Moskau rund 700.000 Einwohner weniger als heute zählen.

Könnte also die Demografie Putins Kriegswirtschaft ausbremsen? Wirtschaftsexperte Astrov mahnt, die Folgen von Arbeitskräfteengpässen nicht überzubewerten. In der Vergangenheit hätten beispielsweise auch viele Staaten in Mitteleuropa wie Tschechien und Ungarn mit massiven demografischen Problemen zu kämpfen gehabt. „Sie haben aber dennoch über lange Zeit hohe Wachstumsraten erzielt.“ Etwas Ähnliches zeichne sich derzeit auch in Russland ab: Die steigenden Löhne trieben den privaten Konsum an und in der Folge auch Teile der Industrie.

Verstörender Optimismus

Dass die zivile Wirtschaft schrumpft, merken die meisten Russinnen und Russen bisher nicht, auch weil der Trend überlagert wird von anderen Entwicklungen. So eröffnen in vielen Regionen neue Restaurants, weil die verfügbaren Einkommen stark gestiegen sind und die Menschen das Geld nun im Land ausgeben, statt in den Sommerurlaub nach Spanien zu reisen. Oder sie kaufen Immobilien: Die Vergabe von Krediten wächst so stark, dass die Zentralbank sie im vergangenen Jahr bremsen musste.

Der Kreditboom hat – aus westlicher Sicht – einen verstörenden Auslöser: „Viele Firmen und Bürger blicken mit gewissem Optimismus in die Zukunft“, sagt Ökonom Astrov. Umfragedaten sind in Russland inzwischen zwar mit Vorsicht zu genießen. Die Erhebungen der großen Umfrageinstitute zeigen aber ebenfalls keine Welle des Pessimismus. Laut dem unabhängigen Lewada-Zentrum geben 71 Prozent der Russen an, ihr Land entwickle sich in die richtige Richtung. Das ist der höchste je gemessene Anteil. Laut dem staatlichen Meinungsforschungsinstitut liegt der Anteil der Russen, die mit Zuversicht in die Zukunft schauen, seit 2022 auf einem stabil hohen Niveau.

Die Folgen zeigen sich nicht nur in den großen Metropolen Moskau und Sankt Petersburg, sondern auch in der Peripherie: In der Stadt Tscheljabinsk östlich des Ural sind die Wohnungspreise seit Februar 2023 um 37 Prozent gestiegen, in Nischnij Nowgorod um 31 Prozent. Unter den 16 russischen Millionenstädten rangiert die Hauptstadt Moskau dabei mit einem Plus von 13 Prozent gerade einmal auf dem vorletzten Platz. Der Immobilienboom hat bemerkenswert viele Industriestädte erfasst, in denen Betriebe auch von der Rüstungsproduktion profitieren.

Experten gehen allerdings nicht davon aus, dass der Rüstungsboom der Wirtschaft dauerhaft hohe Wachstumsraten bescheren wird. Weitere erhebliche Ausweitungen der Waffenproduktion würden die Zivilwirtschaft noch stärker schwächen. Präsident Wladimir Putin wiederum ist darauf bedacht, für die Bürger weiterhin die Illusion aufrechtzuerhalten, der Krieg sei für sie kaum mit persönlichen Einbußen verbunden.

Für das laufende Jahr hat die russische Zentralbank bereits eine pessimistischere Prognose abgegeben: 2024 werde Russland nur noch zwischen einem und zwei Prozent wachsen. Die ersten Anzeichen für die Abschwächung des Booms zeigen sich bereits: Laut Analysten der staatlichen VEB-Bank lag das Wachstum in den vergangenen drei Monaten 2023 saisonbereinigt nur noch bei 0,1 Prozent.

Gleichwohl: Von dem im Westen prognostizierten Crash ist Russland auch damit noch weit entfernt.

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