Dieses Haus wächst nach

Familie Hinrichs lebt in einem Haus aus Stroh, Holz und Lehm. Der Bau war nicht nur regional und nachhaltig, die Familie spart auch bei den Energiekosten. Auf einige Besonderheiten waren sie allerdings nicht vorbereitet.

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rgendwo in der Lüneburger Heide, in der Nähe der Kreisstadt Uelzen, steht eine für Niedersachsen typische neue Einfamilienhaussiedlung. Auf den ersten Blick reihen sich die Neubauten unauffällig aneinander. Auch das Haus der Familie Hinrichs mit dunklen Ziegeln auf dem Satteldach, hellem Putz im Erdgeschoss und Holzverkleidung im Obergeschoss macht optisch zunächst keinen spektakulären Eindruck. Und doch ist es etwas Besonderes. Birgit und Tim Hinrichs haben ihr Eigenheim fast komplett aus Naturbaustoffen errichtet. Statt Beton, Ziegel, Styropor oder Mineralwolle haben sie Stroh, Lehm und Holz verwendet.

Seit zweieinhalb Jahren leben Birgit und Tim Hinrichs mit ihren beiden Kindern auf 150 Quadratmetern. Im Holzständerwerk sind 300 Strohballen verpresst, die von einem Acker nur 15 Kilometer entfernt von ihrem Haus stammen. Verputzt sind die Ballen innen mit Lehm, außen mit einem speziellen Kalkputz für einen besseren Schutz vor Nässe. „Unser Haus kann man prinzipiell einfach umkippen und verrotten lassen. Dann bleiben nur die Fenster, Dachziegel und die Bodenplatte übrig“, sagt Birgit Hinrichs.

Häuser wie das der Hinrichs setzen neue Standards in Sachen Nachhaltigkeit. Nicht nur der eventuelle Abriss eines Tages wäre vergleichsweise umweltfreundlich und mit geringem Müllaufkommen möglich. Auch die Produktion der verwendeten Materialien benötigt viel weniger Energie als ein normales Haus mit Kalksandstein und Trockenbauplatten. Nicht zuletzt ist das Wohnklima in den Räumen, zwischen Holzständern und Strohballen, sehr angenehm. „Keine Chemie, keine synthetischen Dämmplatten, keine Ausdünstungen – nur natürliche Stoffe“, sagt Tim Hinrichs.

Das Klimaproblem im Bau

Die Baubranche hat ein Klimaproblem. Allein die Betonindustrie ist für acht Prozent der globalen Treibhausgase verantwortlich. Denn Beton benötigt Zement als Bindemittel. Um diesen herzustellen, müssen Kalkstein, Sand und Ton auf über 1400 Grad erhitzt werden. Rechnet man den Bau und die spätere Energieversorgung der Gebäude zusammen, ist der Bereich für 38 Prozent der CO₂-Emissionen verantwortlich.

Dabei verbraucht der Bau nicht nur viele Ressourcen, er produziert auch viel Müll. 60 Prozent des globalen Müllaufkommens sind auf den Sektor zurückzuführen. Auch in Deutschland machen Bauabfälle mehr als die Hälfte des Mülls aus. Und während Beton für die Herstellung knappe Ressourcen wie Sand benötigt, gibt es Stroh und Lehm fast überall. Zudem ist Stroh ein regionales Abfallprodukt des Getreideanbaus, das auch CO₂ bindet. So fällt für die Herstellung der Baumaterialien eines strohgedämmten Hauses nur ein Bruchteil der Kohlenstoffdioxid-Emissionen gegenüber der herkömmlichen Bauweise an.

Inzwischen gibt es 1750 Strohballenhäuser in Deutschland. Angesichts einer Gesamtzahl von mehr als 16 Millionen Einfamilienhäusern ein winziger Anteil, doch immerhin gibt es im Neubau eine steigende Tendenz. Wobei das Wort „Ballen“ in den meisten Fällen auch etwas in die Irre führt. Denn meistens wird verdichtetes Stroh in ein tragendes Holzständerwerk hineingepresst. Die Bauweise mit Last tragenden Strohballen ist auch möglich, verbraucht aber mehr Platz und kommt seltener vor. Direkt auf das Stroh kommen mehrere Schichten Lehmputz oder vorgefertigte Lehmbauplatten. Außen kann die Fassade mit Holz verkleidet werden, um den wasserlöslichen Putz zu schützen. Auch Dachüberstände können helfen.

Dass Familie Hinrichs heute zwischen Strohwänden lebt, ist Zufall. Auf ihrer Suche nach Bauunternehmern aus der Region sahen sie eines Tages das Auto der Firma Schulz Bau aus Wittingen und fragten dort an. Im Büro entdeckten sie ein Album mit Strohballenhäusern und entschieden sich schließlich dafür.

Sie haben es nicht bereut. Die Naturstoffe sorgen nämlich auch für ein angenehmes Wohngefühl. „Wenn wir nach einer Reise nach Hause kommen, riecht es nicht komisch und abgestanden“, sagt Birgit Hinrichs. Das liegt daran, dass Lehm die Eigenschaft hat, Gerüche zu neutralisieren. „Studien zeigen, dass Lehm Giftstoffe binden und absorbieren kann“, sagt Rainer Hirth. Er ist Professor für Architektur an der Hochschule Coburg und forscht unter anderem zum Bau mit nachhaltigen Materialien. Die Naturbaustoffe helfen auch den Feuchtigkeitshaushalt zu regulieren, sagt er.

Weniger als 100 Euro Energiekosten im Monat

Noch ein Vorteil des Baustoffs: Er kann Wärme speichern und wieder abgeben, wenn die Luft abkühlt. Im Sommer heize sich das Haus nicht so sehr auf und gebe die Wärme erst in der Nacht wieder ab, sagt Tim Hinrichs. Im Winter wiederum bleibt die Innenwärme erhalten und das Stroh sorgt für eine wirksame Dämmung. „Je leichter ein Baustoff ist, desto besser ist er für den Wärmeschutz“, erklärt Experte Hirth.

Das macht sich im Haus der Hinrichs bei den Heizkosten bemerkbar. Mit der Strohdämmung war es ohne zusätzliche Maßnahmen möglich, den KfW-55 Standard zu erreichen. Zusammen mit einer Wärmepumpe mit Tiefenbohrung und einer Photovoltaikanlage ergibt sich so ein sehr effizientes Haus. Für die Photovoltaikanlage und die Tiefenbohrung mussten sie zusätzlich 24.000 Euro investieren. „Doch zusammen mit der guten Dämmung des Hauses macht sich das bezahlt“, sagt Tim Hinrichs. „Die gesamten Energiekosten belaufen sich auf weniger als 100 Euro im Monat“.

Insgesamt zahlten die Hinrichs 310.000 Euro für das fertige Haus. Für die Erreichung des KfW55-Standards wurden der Familie durch die Förderung der Förderbank KfW 24.000 Euro erlassen. Für die Wärmepumpe mit Tiefenbohrung gab es von der Bundesförderung noch mal gut 10.000 Euro dazu.

Monatelange Insektenplage

Acht Monate nachdem die Beton-Bodenplatte gegossen worden war – und damit eines der wenigen Bestandteile der klassischen Massivbauweise –, konnte die Familie einziehen. Die Hinrichs waren erleichtert, erinnern sich jedoch auch an einige Probleme, auf die sie nicht vorbereitet waren. Es begann bei den Sockelleisten: Lehmputz hat die Eigenschaft, dass er leichter bröckelt. Deshalb können Kanten nicht gerade verputzt werden: Alle Ecken im Haus sind rund. „Das ist zwar sehr schön, aber unpassend für die Fußleisten“, sagt Tim Hinrichs. Nach zwei Jahren haben sie noch immer keine passenden Teile, da sich Holz schwer in diese Form biegen lasse. Auf eine Antwort vom Parkettleger warten sie bis heute.

Sie schmunzeln auch, wenn sie sich an den ersten Sommer im Haus erinnern. Denn da traf sie etwas unvorbereitet eine Insektenplage. Der Bauunternehmer hatte sie darauf eingestimmt, dass sich Insekten während des Baus im Stroh ansiedeln und sich einige Monate lang den Weg durch die Ritzen suchen würden. „Es gab einen Moment, an dem ich verzweifelte, weil es einfach nicht aufhörte“, erinnert sich Birgit Hinrichs. Den ersten Sommer lang krochen Käfer und Fruchtfliegen-große Insekten aus den Wänden. „Das war der einzige Moment, in dem wir uns fragten, ob ein Strohhaus die richtige Entscheidung war“, sagt sie. Ihr Mann hatte sich zwischenzeitlich Bestimmungs-Apps heruntergeladen – in der Sorge, dass es Insekten sein könnten, die das Stroh zerstören würden. „Wir wurden etwas paranoid“, erinnert sich Tim Hinrichs. Doch die Plage nahm ein Ende: „Es wurde kühler und im Frühjahr kamen sie nicht wieder“, sagt seine Frau.

Vier Gebäudeversicherer sagten ab

Auf einige Eigenheiten eines Strohhauses waren sie jedoch vorbereitet. Nämlich, dass sie genau planen mussten, wo sie schwere Elemente anbringen würden. In Stroh-Lehm-Wänden halten keine schweren Regale, wenn sie nicht ausgerechnet an eine Holzlatte des Rahmenbaus angebracht werden. Die Hinrichs montierten deshalb an einigen Stellen zusätzliches Blockholz.

Etwas schwieriger war es mit der Gebäudeversicherung. Vier Assekuranzen sagten ab, weil sie den Gebäudetyp nicht kannten, erinnert sich Tim Hinrichs. Andere berechneten den Maximalbetrag, da sie das Haus als Fachwerk mit Reetdach klassifizierten und mit Bedenken zu Brandschutz argumentierten. Dabei wurde für Stroh als Baustoff 2014 eine allgemeine bauaufsichtliche Zulassung erteilt. „Es gibt Brandversuche mit Lehmputzen auf Strohballen die einen 30- bis 90-minütigen Feuerwiderstand nachweisen“, sagt Hirth. „Das ist in sehr vielen Fällen ausreichend.“ Am Ende vermittelte der Bauträger einen Versicherer, der sich mit Strohhäusern auskennt.

„Die Häuser halten Jahrhunderte“

Vor 100 Jahren hat Beton seinen Siegeszug begonnen und nachhaltige Baumaterialien verdrängt. „Dabei ist Deutschland ein Land des Strohlehmbaus“, sagt Wissenschaftler Hirth. Fachwerkhäuser mit Strohlehmschlag waren jahrhundertelang der Standard. Das älteste noch erhaltene Fachwerkhaus steht in Esslingen am Neckar und wurde im Jahr 1266 gebaut. Auch Hirth selbst wohnt in einem Haus mit originalen Strohlehmfächern, das 250 Jahre alt ist. An einigen Stellen seien sogar Walnussschalen als Dämmstoff verarbeitet. „Damals hat man eben das benutzt, was da war“, sagt er. Die neu gebauten Strohhäuser können laut seiner Schätzung ebenfalls Jahrhunderte halten. Beim Abbau hingegen könne man das Holz wiederverwenden, den Lehm auf den Acker ausbringen und das Stroh unterpflügen.

Komplett an die Natur zurückgeben – das ist auch die Vision der Familie Hinrichs. Idealerweise soll ihr Haus in Niedersachsen jedoch noch die nächsten Hundert Jahre stehen. Hoffentlich auch weiterhin ohne Insekten.

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