Seien Sie paranoid

Wer anderen ständig unterstellt, Böses im Schilde zu führen, ist auf dem besten Weg, sich das eigene Leben schwer zu machen. Gesundes Misstrauen ist zwar wichtig, aber es sollte nicht in Verfolgungswahn umschlagen. Mit einem Trick bekommen Sie die Extremform des Misstrauens wieder in den Griff.

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eder ist hinter Ihnen her. Alle wollen Ihnen ein Bein stellen. Die ganze Welt hat sich gegen Sie verschworen. Gönnen Sie sich diesen aufbauenden Gedanken. Überall werden Sie kritische Blicke sehen. Überall tuschelnde Stimmen hören. Und wenn Ihnen was Schlechtes widerfährt, fassen Sie das als eindeutigen Beweis auf, dass Ihr Umfeld tatsächlich nur ein Ziel hat: Ihren Sturz, Ihren Ruin, Ihren Untergang.

Durchdrungen von Stress und Angst, bekommen Sie nichts Produktives mehr hin. Ihre Karriere können Sie vergessen. Kreativität? Abschminken. Leichtigkeit? Das wäre Ihr Verderben. Wahrscheinlich wird man Sie als paranoid bezeichnen. In Wahrheit sind Sie aber nur wachsam. Freundschaften? Sind immer nur vorläufig. Jemand ist nett zu Ihnen? Seien Sie auf der Hut: Er oder sie will garantiert irgendwas von Ihnen. Im Gegensatz zu Ihren blauäugigen ehemaligen Freunden sehen Sie den Menschen eben genau so, wie er ist: als ein Biest, das angreift, sobald es kann.

Der US-Investor Warren Buffett führt einen der weltgrößten Konzerne – 300.000 Mitarbeiter – mit einem Team von nur 20 Personen, seine persönliche Assistentin inklusive. Er spricht von der idealen Führung als einem „seamless web of deserved trust“, einem nahtlosen Netz verdienten Vertrauens. Das spart Bürokratie, Überwachung und Kontrolle. Sie hingegen sind nicht so naiv: Es gibt kein hundertprozentiges Vertrauen, noch nicht mal zehnprozentiges. Falls Sie Manager sind, haben Sie die einfache Wahl: Mikromanagement oder Untergang. Im Privaten gilt dasselbe: Wenn Ihr Ehevertrag 50 Seiten umfasst, heiraten Sie nicht, so empfahl es einst der im November 2023 verstorbene US-Milliardär und Rechtsanwalt Charles Munger.

Vertrauen ist Bronze, Vorsicht ist Silber, aber Misstrauen ist Gold. Diese Lebenshaltung wird Ihnen jegliche Leichtigkeit und Lebensfreude rauben – aber nur dank ihr behalten Sie die Bodenhaftung. Und sollte irgendwann gänzlich unerwartet ein angenehmes Lüftchen durch Ihr Leben säuseln, dann trauen Sie ihm auf keinen Fall. Da hinten braut sich ein Sturm zusammen.

Die leise Stimme der Vernunft: Misstrauen in ungewohnten Situationen ist rational. Ein Beispiel: Ihr Banker empfiehlt Ihnen ein neues „strukturiertes Produkt“ – mit einer zufälligerweise hohen Management-Fee. Oder Sie bekommen eine E-Mail von einem afrikanischen König, der Ihnen sein Erbe überlassen möchte. Hier ist Skepsis die einzige vernünftige Reaktion.

Misstrauen ist auch angebracht, wenn Ihnen jemand widersprüchliche Informationen gibt. Wenn Fakten und Erzählungen nicht übereinstimmen. Wenn etwas zu gut klingt, um wahr zu sein. Wenn jemand Sie drängt, schnell zu entscheiden, besonders wenn es um Finanzielles geht. Und wenn jemand, den Sie eigentlich gut kennen, plötzlich und ohne erkennbaren Grund sein Verhalten ändert. Kurzum, gesundes Misstrauen schützt Sie vor Stolpersteinen.

In zwei Fällen hingegen ist Misstrauen kontraproduktiv. Erstens, wenn es sich nach vielen Jahren der reibungslosen Zusammenarbeit nicht in Vertrauen verwandelt. Wenn Sie etwa meinen, nach zehn tadellosen Ehejahren die E-Mails Ihres Lebenspartners mitlesen zu müssen, dann stimmt etwas nicht mit Ihnen.

Zweitens, wenn Misstrauen in Paranoia umschlägt. Paranoia, das sind extreme und irrationale Überzeugungen, die nichts mit der Realität zu tun haben – wenn Sie also zum Beispiel überzeugt sind, Ihr Nachbar habe seit Jahren Abhörgeräte in Ihrem Garten installiert, obwohl Sie keinen einzigen Hinweis dafür haben. Klar, jeder kann mal einen irrationalen Gedanken haben. Problematisch wird es, wenn solche Wahnvorstellungen häufig vorkommen. Paranoia killt Ihre Lebensfreude, Ihre Beziehungen und nicht zuletzt Ihre Effizienz, weil sie massiv Hirnkapazität in Beschlag nimmt.

Wie kriegen Sie diese Extremform von Misstrauen in den Griff? Erstens: Betrachten Sie die Welt objektiv, vielleicht mithilfe eines Freundes. Wo genau liegt die Evidenz, dass die Welt sich gegen Sie verschworen hat? Nehmen Sie ein Blatt Papier und schreiben Sie Ihre Beobachtungen auf. Ich garantiere Ihnen: Wenn Sie objektiv sind, wird das Blatt leer bleiben. Zweitens: Gehen Sie davon aus, dass Sie nicht so wichtig sind, wie Sie vielleicht glauben. Die Leute haben anderes zu tun, als Ihnen ständig Fallen zu stellen. Drittens: Wenn es mit Vernunft nicht geht, nehmen Sie Medikamente, die Sie ruhiger machen. Die gibt es, und sie funktionieren, Sie bekommen sie von Ihrem Arzt – und nein, – und nein, Sie sind nicht sein Versuchskaninchen.

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