Psychotherapeutin Ingeborg Kraus warnt: Das Selbstbestimmungsgesetz suggeriere Mädchen, die mit ihrem Körper unglücklich sind, Schein-Auswege. Das führe oft zu folgenreichen Eingriffen. Und: Die Annahme, Männer würden das Gesetz nicht missbrauchen, sei „wahnsinnig naiv“.
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ngeborg Kraus, 55, ist promovierte Diplompsychologin und Verhaltenstherapeutin. Seit 2012 ist sie in eigener Praxis mit Kassensitz in Karlsruhe tätig. Sie ist auf die Behandlung von Trauma-Opfern spezialisiert, vor allem von Frauen, die Opfer von Zwangsprostitution und Menschenhandel wurden. Kraus ist Mitglied der Grünen. Kürzlich veröffentlichte sie eine Streitschrift gegen das von den Ampel-Fraktionen im Bundestag beschlossene Selbstbestimmungsgesetz. In dem Beitrag erklärt sie, warum sie dieses „als Psychotherapeutin gänzlich ablehne“.
WELT: Frau Kraus, Sie gründen Ihre Kritik am Selbstbestimmungsgesetz auf Erfahrungen mit Transpersonen in Ihrer Praxis. Sie beschreiben sie als nicht wirklich „trans“ im Sinne eines beständigen Gefühls, im „falschen Körper zu sein“, sondern als aus anderen Gründen traumatisierte Frauen oder Männer auf der Flucht vor starren Geschlechterrollen. Sie hatten in zwölf Jahren Praxis aber nur vier Transpersonen als Patienten. Wie können Sie auf dieser Grundlage insinuieren, so etwas wie echte Transsexualität gebe es nicht?
Ingeborg Kraus: Erstens entsprechen vier Patienten aus circa 900 Patienten in etwa dem Anteil der Transsexuellen in der Gesamtbevölkerung. Zweitens verleugne ich nicht, dass es Transfrauen und Transmänner gibt, die sich im falschen Geschlecht fühlen.
WELT: Worum geht es Ihnen dann?
Kraus: Es geht darum, zu zeigen, dass die Realität viel komplexer ist, als die Befürworter des Selbstbestimmungsgesetzes sie darstellen. Sie glauben, wenn jemand „einfach“ eine andere, vom tatsächlichen biologischen Geschlecht abweichende Geschlechtsempfindung äußert, soll man das ernst nehmen und der Person dabei „helfen, sie selbst zu werden“.
Das blendet aus, dass jeder Fall für sich steht und das therapeutische Einschätzung extrem wichtig ist zum Schutz der Patienten. Wir wissen aus anderen Ländern mit ähnlichen Gesetzen wie dem Selbstbestimmungsgesetz, dass auf die Selbsterklärung eines von der Biologie abweichenden Geschlechts sehr wahrscheinlich medizinische Eingriffe von Hormoneinnahme bis zu Operationen folgen. Das kann verheerend sein.
WELT: Eine Ihrer Patientinnen etwa ließ sich in jungen Jahren die Brüste entfernen, bereute das schwer und verstand sich, als sie zu Ihnen kam, nicht mehr als Transmann. Ist es möglich, dass bei einer Therapeutin wie Ihnen, bekannt als „transkritische“ Feministin, eher solche Fälle auflaufen – und die durch ihre Transition glücklich gewordenen Transpersonen Sie nicht aufsuchen?
Kraus: Im Gegenteil. Ich habe schon vor 15 Jahren eine Fortbildung zur Begleitung Transsexueller gemacht; weil ich als Lesbe früher viel in emanzipatorischen Bewegungen unterwegs war, kannte ich immer viele Transsexuelle, bin also gut vernetzt. Als Mitglied im Verband lesbischer und schwuler Psychologen stehe ich seit über zehn Jahren – also lange, bevor die große Debatte über Transsexualität aufkam – auf einer Liste queerfreundlicher Therapeuten.
Seit sehr langer Zeit können transsexuelle Personen mich also anrufen, wenn sie Gutachten für Operationen oder anderen Beistand brauchen. In meinen zwölf Jahren als Therapeutin in eigener Praxis gab es also keine solche Selbstselektion meiner Patienten. Und dennoch waren es in zwölf Jahren nur vier Fälle, inklusive solcher, die unternommene Schritte bereut haben.
WELT: Wie grenzen Sie „echte“ Transsexualität von anderen Formen von Körperunbehagen ab, um zu entscheiden, ob Sie zum Beispiel Eingriffe verantworten beziehungsweise gutheißen können?
Kraus: Es gibt keine einfachen, harten, klaren Kriterien. Klar ist nur, dass es zum Schutz der Patienten individuelle, sensible, nicht als übergriffig empfundene objektive therapeutische Einschätzung darüber geben muss, woher ein Wunsch zu einer Transition, also zum Wechsel des Vornamens bis hin zu Eingriffen, rührt und ob eine Transition überhaupt der richtige „Lösungsweg“ ist. Viele, gerade Jüngere, die denken, sie seien transsexuell, oder sich so verhalten, sind eigentlich Opfer einer Gesellschaft, die es nicht geschafft hat, ihre Geschlechterrollen aufzuweichen.
WELT: Sie beschreiben einen Fall, wo ein Mann wochenends zur „Frau“ wird und das als Form der Entspannung beschreibt, weil er sich in seiner Männerrolle nicht emotional zeigen könne. Was erleben Sie bei Frauen und Mädchen?
Kraus: Von zwei meiner jugendlichen Patientinnen war eine TikTok-, die andere Instagram-süchtig. Die eine machte der sexualisierte Körperkult auf Instagram magersüchtig; die andere war Muslima, Islam-Influencer impften ihr ein, sie müsse superfromm sein, plötzlich trug sie Kopftuch. Das zeigt erstens den Einfluss, den die sozialen Medien haben, wo eben auch Trans-Influencer auf Jugendliche einwirken. Aber auch allgemein zeigen diese Fälle, welche Anforderungen an junge Mädchen und Frauen gestellt werden.
Da zu sagen, „dann bin ich eben keine Frau mehr“, kann ein Ausweg sein aus diesem Druck. In Deutschland ist gewalttätige Pornografie auch unter Jugendlichen weit verbreitet, die Prostitutionsgesetzgebung erklärt Frauen zur Ware. 70 Prozent der Mädchen in Deutschland fühlen sich nicht wohl in ihrem Körper. Sind die alle transsexuell? Natürlich nicht. Transideologen und nun das Selbstbestimmungsgesetz sagen ihnen aber: Geschlecht ist nur ein Gefühl, euer Unbehagen könnt ihr durch eine Transition lösen.
WELT: Was meinen Sie mit „Transideologie“?
Kraus: Dahinter steckt die Überzeugung, es gebe mehr als zwei biologische Geschlechter und dass man das Geschlecht wirklich „wechseln“ könne, und die erneute Verkopplung von Geschlechterrolle und biologischem Geschlecht. Das Ideal ist nicht mehr: Biologisches Geschlecht darf vielfältige Geschlechterrollen leben, sondern: Passe im Zweifel deinen biologischen Körper, mindestens aber dein gesetzliches Geschlecht und deinen Namen stets deiner präferierten Geschlechterrolle an.
WELT: Das Selbstbestimmungsgesetz hat zumindest mit medizinischen Eingriffen gar nichts zu tun.
Kraus: Wie gesagt, „soziale Transitionen“, zeigen die Erfahrungen etwa aus Großbritannien, münden mit hoher Wahrscheinlichkeit in Hormoneinnahme und medizinische Eingriffe. Ich prognostiziere: Es wird sehr viele Fehldiagnosen geben in Deutschland. Das kann bedeuten, irreversibel die eigene Stimme zu verändern, und im schlimmsten Fall: Man verstümmelt gesunde Organe. Dieses Gesetz wird sehr viele Opfer hervorbringen.
WELT: Sie schreiben in Ihrem Text, Transmenschen werde „zu schnell vorgegaukelt“, ihre Probleme ließen sich durch Operationen lösen. Andererseits ist eine Operation für jemanden mit echtem körperlichem Leidensdruck doch die einzige Lösung, oder nicht?
Kraus: Ich hatte eine Patientin, Transmann, also „female-to-male“, die ihre Entscheidung zur geschlechtsangleichenden Operation nicht grundsätzlich bereute; sie hatte über zehn Operationen hinter sich, ein Penis-Implantat. Sie hatte jeden Tag Schmerzen, ihre Leistungsfähigkeit war stark eingeschränkt, sie war inkontinent. Vor den Eingriffen hatte sie einen gesunden Körper, keine Schmerzen.
Ist es in Ordnung, ist es zu verantworten, solche Eingriffe durchzuführen? Ich weiß es nicht. Man muss sich auch diesen ethischen Fragen stellen.
WELT: Wurde der Patient denn glücklich durch die Eingriffe, dass er sein Erscheinungsbild der Vorstellung anpasste, ein Mann zu sein?
Kraus: Diese Patientin kam mit einer schweren Depression zu mir; glücklich war sie nicht. In unseren Sitzungen wurde klar, dass sie lange vor ihrer „Transition“ in ihrer Kindheit extrem traumatisiert worden war; das war nie therapeutisch behandelt worden. Das heißt, womöglich, mit besserer Betreuung von früh an … Wer weiß, ob es erst zu ihrem Selbstbild, keine Frau zu sein, und dann zu diesen schweren Operationen gekommen wäre.
WELT: Transaktivisten und viele Betroffene heute sagen, so regelt es auch das noch geltende Transsexuellengesetz: Die „Umoperation“ gehöre nicht mehr zwingend zum Geschlechtswechsel, im Selbstbestimmungsgesetz spielen Körper und Medizin gar keine Rolle mehr. Also doch ein Fortschritt?
Kraus: Nein, das führt lediglich dazu, dass Männer mit Bart und Penis in Frauensaunen auftauchen oder Männer Frauen im Frauensport ausbooten – kurz, dass Frauenrechte und -räume ausgehöhlt werden. Mein Grundgefühl ist jetzt, dass ich keine Schutzräume mehr habe als Frau, wo ich ganz sicher nicht von Männerkörpern umgeben sein werde. Wer annimmt, ein Teil der Männer würde nicht jede Möglichkeit nutzen, um missbräuchlich in Frauenräume vorzudringen, ist wahnsinnig naiv.
Die Schutzmechanismen im Gesetz werden nicht ausreichen. Heute schon tritt ein Teil der Transfrauen extrem aggressiv auf, droht online und auf Demonstrationen mit Gewalt gegenüber kritischen Feministinnen wie mir. Auf Pride-Umzüge, zu denen ich früher gerne gegangen bin, traue ich mich wegen dieser Leute nicht mehr.
WELT: Sie sind einerseits skeptisch gegenüber irreversiblen, potenziell bitter bereuten Operationen – andererseits wollen Sie als Frau keine Männerkörper mit Penis in Frauenräumen. Was folgt daraus?
Kraus: Daraus folgt, dass es eine dritte Kategorie für Transfrauen geben muss und nicht so getan wird, als hätten sie tatsächlich ihr Geschlecht verändert. In der Praxis wäre das ein Saunatag für Männer, einer für Frauen, einer für Frauen und Transfrauen. Es ist das Gegenteil wahr geworden.
Auch viele Transfrauen sehen Operationen kritisch und wollen sich schweren Eingriffen nicht aussetzen und gleichzeitig die gleichen Rechte wie Frauen genießen. Tessa Ganserer löst das auf mit der völlig unsinnigen Formel: Ein Penis sei eben nicht per se ein männliches Geschlechtsorgan.
WELT: Grünen-Mitglied Ganserer saß bei der Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetzes im Bundestag in der ersten Reihe. Haben Menschen wie Sie, die auf die Gefahren von Transitionen hinweisen den Konflikt verloren?
Kraus: Es scheint so, und es ist fatal, vor allem hinsichtlich der zu befürchtenden Auswirkungen auf Kinder. Schon Erwachsene sind herausgefordert, wenn sie aufgefordert sind, zu reflektieren, welche „Geschlechtsidentität“ sie haben, unabhängig von ihrem Geschlecht. Wie schwer ist das erst für Kinder, vor allem wenn sie mit entsprechenden Bildungsmaterialien konfrontiert werden, die dazu noch den „einfachen“ Geschlechtswechsel propagieren und medizinische Eingriffe verharmlosen? Das ist schlicht Kindesmissbrauch.