Und dann meldet sich ein Mann über 50 mit Tränen in den Augen zu Wort

Auf der Veranstaltung eines Windelunternehmens sprechen halbprominente Prenzlauer-Berg-Eltern über ihre Erfahrungen mit dem Wochenbett. Für den Realitätscheck sorgen am Ende ausgerechnet zwei Männer, einer weint fast. Denn sein Leben hat mit dem Kollwitzplatz nichts zu tun.

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ie Veranstaltung findet mitten in Prenzlauer Berg statt, Berlins Epizentrum für Familien, der mehrgeschossige schicke Kinderzahnarzt liegt direkt gegenüber von dem Spielplatz, um den sich vor allem, wenn samstags Wochenmarkt ist, Rosé trinkende Hipster-Eltern versammeln und ihre Kinder von hinten in ihren Wollwalkanzügen auf Instagram posten.

Und eine Art Querschnitt dieser Eltern (nur mit besonders vielen Instagram-Followern) hat das Frankfurter Windelunternehmen Lillydoo auch eingeladen, um über die „Weeks of Wonder“ zu sprechen, eine recht euphemistische Umschreibung für das Wochenbett, also die Wochen nach der Geburt, die je nach Gesundheit der Frau, je nach Umfeld, Ressourcen und Privilegien wohl unterschiedlicher kaum sein könnten.

Der Firmengründer spricht in der Begrüßung vom Wochenbett als einer „fantastischen Zeit“, er hat noch keine Kinder, vielleicht ließ er sich von schwarz-weiß verträumten Postings beeindrucken, die es als „Kuschel- und Kennenlernzeit“ verklären. Wobei man auf Instagram durchaus auch radikal andere Geschichten findet, die von dramatischen Geburtsverletzungen, Kaiserschnittnarben, Milchstaus, Gelbsucht-Babys, postnatalen Depressionen. Was dort eher selten stattfindet: das Wochenbett der Familienmutter aus der Kleinstadt, das weder besonders schön noch besonders dramatisch ist.

Sissi Rasche, influencende Hebamme

„Jedes Wochenbett ist anders!“, heißt es dementsprechend auch in der Einladung zum Prenzlauer-Berg-Event und so sollen dort vier unterschiedliche Personen von ihren Wochenbetterlebnissen berichten – drei Mütter und auch ein Vater. Die Mütter sind Podcasterin/Autorin/Influencerin Julia Knörnschild, Autorin/Kinderwunsch-Influencerin und Endometriose-Aktivistin Anna Adamyan, der Mann von Ex-Topmodel-Kandidatin und jetzt Autorin/Podcasterin/Fair-Fashion-Bloggerin/Influencerin Marie Nasemann Sebastian Tigges (früher Anwalt in einer Großkanzlei, jetzt selbst Instagrammer/Content Creator und Podcaster) und die T-Online-Redakteurin Janna Halbroth.

Moderiert wird die Veranstaltung von Sissi Rasche, eigentlich Hebamme, längst selbst Instagram-Star mit gefühlt mehr Kooperationen als die anderen Protagonisten zusammen. Sie wirbt für entkoffeinierten Kaffee, Geburtspapeterie, Babytragen, Waschlappen und natürlich besagte Windeln, gilt als eine der begehrtesten Hebammen, taucht in den Storys ihrer zahlreichen influencenden gebärenden Klientinnen auf, von Modebloggerin Jessie Weiss bis zu Johanna Völkel (Frau von BossHoss Alec).

In ihrem Podcast spricht sie darüber, wie wichtig Wolle-Seide-Bodys sind, klärt über Hebammenmangel auf, informiert auf Instagram über Ringelröteln. Sie weiß, dass nicht jede Frau eine Hebamme findet, wie wichtig diese fürs Wochenbett ist, moderiert routiniert, die Familien von zwei der vier Talkgäste hat sie auch in den Schwangerschaften und dem Wochenbett betreut.

Rasche liegt grundsätzlich am Herzen, dass Eltern sich auf das Wochenbett vorbereiten und das Thema ernst nehmen: „Das Frühwochenbett sind die ersten zehn bis 14 Tage, in denen wirklich strenge Bettruhe angesagt ist. Und das komplette Wochenbett, das ist kaum einem bewusst, dauert acht Wochen.“ Acht Wochen Schonung, acht Wochen, in denen am besten der Partner ebenfalls zu Hause ist, Freunde Essen vorbeibringen, kein bis wenig Besuch, ein langsames Ankommen für alle im neuen Leben.

Anna Adamyan berichtet, dass sie genau diese acht Wochen gebraucht habe – nach einem Notkaiserschnitt in Vollnarkose, nach jahrelanger Kinderwunschbehandlung. „Ich fand mein Wochenbett schrecklich“, erzählt sie. „Es ging mir psychisch und physisch schlecht, ich war maßlos überfordert, musste alles verarbeiten.“ Ihre Hebamme hätte eine wichtige Rolle gespielt, sie täglich besucht, unterstützt, die ersten zwei Wochen hätten ihre Mutter und ihr Mann alle Aufgaben bis auf das Stillen übernommen.

Die Journalistin Halbroth berichtet, dass ihr Mann nach der Geburt des zweiten Kindes so gut wie alles mit ihrem ersten Kind geregelt und den Haushalt alleine geführt habe: „Wir Frauen halten so viel aus, geben unseren Körper für immer her – da muss es selbstverständlich sein, dass er den Rest macht.“ So habe er auch ihre Mutter zurechtgewiesen, die bei einem Besuch voller Mitleid über den „armen Jungen“ sprach, der ja so viel Hausarbeit machen müsse, weil ihre Tochter mit Milchstau im Bett lag.

Bis auf Adamyan leben alle Interviewten ums Eck, sind Teil der Eltern-Kinder-Prenzlauer-Berg-Instagram-Bubble, waren teilweise gegenseitig schon in ihren jeweiligen Podcasts zu Gast, sind supersensibilisiert in Sachen Gleichberechtigung, Mutterschaft, Elternleben, sprechen und schreiben so gut wie täglich auf irgendeinem Kanal darüber, sind selbstständig und/oder haben Homeoffice-Jobs, finanzielle, intellektuelle, physische Ressourcen und Privilegien.

Acht Wochen Schonung

Sie wissen, wie und wann und wo man sich um eine Hebamme kümmert, dass man zig von ihnen anschreiben oder anrufen muss, um erfolgreich zu sein. Sie haben keine Sprachbarrieren im Alltag, ihre Kinder sind gesund, sie selbst und ihre Partner ebenfalls. Sie wissen, wo sie sich vorgekochtes Essen für das Wochenbett bestellen können, was die Warnzeichen für postnatale Depressionen sind, und dass es so was wie ein Wochenbett überhaupt gibt.

Sie können sich, wenn sie wollen, acht Wochen schonen, helfen lassen, Elternzeit nehmen, haben Partner, die Elternzeit nehmen, von zu Hause arbeiten, das Kind nicht als alleinige Aufgabe der Frau sehen, die es geboren hat. Und das ist eine wichtige Entwicklung, dass es sensibilisierte Familien gibt, dass dies für einige von ihnen funktioniert.

Aber wie sieht es denn in Durchschnittsfamilien aus? Oder darunter? In Familien mit Migrationshintergrund? Alleinerziehende werden in dieser Runde kurz angesprochen, aber auf dem Podium sitzt keine und berichtet, wie das denn geht, so ein Wochenbett, alleine mit Kind, wenn keiner für einen einkauft und man auch nicht genug Geld hat, sich etwas liefern zu lassen.

Auf dem Podium sitzt auch keine Mutter, die parallel Angehörige pflegen muss, die Gewalt in der Beziehung erlebt, oder auch einfach nur einen Mann hat, der von „Wochenbett“ noch nie etwas gehört hat. Keine Mutter, deren Mann auf Montage geht, und verlacht würde, würde er monatelang Elternzeit nehmen wollen, keine Mutter, deren Mann einen Job hat, der nicht von zu Hause aus machbar ist oder der einfach überhaupt keine Notwendigkeit sieht, länger als ein paar Tage zu Hause zu bleiben.

Der Alltag der meisten Menschen sieht sicherlich anders aus, als der, über den hier gesprochen wird. Frauen, die zwei, drei oder mehr Kinder haben, deren Kinder vielleicht nicht gesund sind, die können über ein achtwöchiges Wochenbett wohl nicht mal mehr schmunzeln. Und manche müssen oder wollen auch einfach weitermachen, sehen darin kein Problem und sollten auch kein schlechtes Gewissen oder Gefühl vermittelt bekommen, wenn sie diese Ratschläge nicht befolgen können oder wollen.

Väter-Videos, die kein Vater sieht

Der Prenzlauer-Berg-Blick auf das Wochenbett ist wohl nicht der realistische, trotz der Schilderung von Geburtsverletzungen und Milchstaus. Doch für zumindest einen kleinen Einblick in eine Durchschnittsrealität sorgen an diesem Vormittag dann zwei Männer, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven.

Sebastian Tigges, der schon erwähne Quotenmann in der Runde, veröffentlicht auf Instagram regelmäßig Videos, die sich an Väter richten und genau für diese Themen sensibilisieren sollen: die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit und Mental Load, erklärt etwa am Beispiel des Kleidungskaufs für Kinder. Dass man als Mann seiner Frau nicht „hilft“, sondern es einfach genauso seine Aufgabe ist, sich um sein Kind zu kümmern. Solche Sachen.

Das Problem: „Mir folgen fast nur Frauen. Ich erreiche die Männer gar nicht.“ Die Themen, die er anspreche, interessiere und tangiere die meisten Männer einfach nicht. Auch wenn sie Kinder haben, die Zeit nach der Geburt erlebt haben – „wir wohnen hier in einer Elternbubble mit ganz anderen Strukturen“, sagt Tigges, „in der Masse sieht es einfach anders aus.“

Und auch er spricht hier nicht mal vom bodenständigen Arbeiter, der ohnehin kein Instagram nutzt, sondern auch von seinen früheren Kollegen in der Großkanzlei, Ex-Kommilitonen aus dem Jura-Studium: „Meine Arbeit auf Insta wird von denen gar nicht ernst genommen. Sie lächeln es weg oder sind befremdet davon. Diese Ablehnung ist natürlich auch ein Weg, um sich selbst zu schützen, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen, warum man selbst seine Frau alleine lässt.“

Ehemalige Kollegen seien teilweise schon zwei Tage nach der Geburt wieder im Büro gewesen, mit der Begründung, dass sie ja nicht stillten. Und die Akzeptanz von kümmernden Vätern wird in der Masse nicht wachsen, wenn es der Regierung aktuell nicht einmal gelingt, das längst beschlossene Familienstartzeitgesetz in Kraft treten zu lassen, das Vätern nach der Geburt zwei Wochen bezahlten Urlaub zugestehen sollte.

Auch Sissi Rasche stellt im Alltag fest: „Die Realität ist oft anders, als ich es mir wünsche, der Partner unterstützt oft nicht wie geplant. Ich als Hebamme muss das dann oft mit den Vätern besprechen.“

Und ein solcher meldet sich zum Schluss noch aus dem Publikum zu Wort, über 50, gestandener Unternehmer. Er hätte damals, vor 30 Jahren, gerne die ersten Lebensjahre seiner Kinder mehr miterlebt, seine Vaterrolle gelebt. „Doch es war eine andere Zeit, es gab und gibt ja auch teilweise heute nicht die Strukturen und die Möglichkeit für Männer, sich zu engagieren.“ Kurz kann er nicht weitersprechen, hat Tränen in den Augen. „Gerade Männern werden doch falsche Glaubenssätze eingeimpft – es gibt zig Coaches für Erfolg im Beruf und so weiter. Aber was bringt mir das, wenn ich mich jetzt mit über 50 gar nicht mehr an Zeit mit meiner Tochter als Baby erinnere? Ich kann die Zeit nicht zurückdrehen.“

Eine Lösung hat in dieser Runde keiner. „In dieser Generation wird es nichts mehr werden“, sagt Podcasterin Knörnschild. Man müsse jetzt die Söhne anders erziehen, mit neuen Glaubenssätzen. Im Prenzlauer Berg fangen sie schon mal damit an.

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